Zu viel des Guten …
Ein Zen-Meister wollte ein Bild malen und bat seinen Meisterschüler, sich neben ihn zu setzen und ihm zu sagen, wann das Bild vollkommen sei. Nicht nur der Schüler, sondern auch der Meister war besorgt, denn noch nie hatte der Schüler gesehen, dass der Meister etwas Unvollkommenes hervorbrachte. Aber an dem Tag lief alles aus dem Ruder. Der Meister bemühte sich, und je mehr Mühe er sich gab, desto schlimmer wurde es.
In Japan oder in China wird die Kunst der Kalligraphie ausschließlich auf Reispapier ausgeführt ... ein ganz bestimmtes, höchst empfindliches Papier, sehr fragil. Wenn du ein wenig zögerst ... man kann jahrhundertelang erkennen, wo der Kalligraph gezögert hat – weil das Reispapier dann mehr Tinte aufsaugt und es wie ein Klecks aussieht. Auf Reispapier etwas vorzutäuschen, ist sehr schwer. Man muss immer im Fluss bleiben, man darf nicht zögern. Wenn du auch nur einen einzigen Moment, einen Sekundenbruchteil zögerst – „Was jetzt?!“ –, hast du verspielt, bereits verspielt. Und wer scharfäugig ist, wird sofort sagen: „Das ist doch kein Zen-Gemälde!“ – denn ein Zen-Gemälde hat spontan fließend zu sein.
Der Meister versuchte und tat sein Bestes, und je mehr er’s versuchte ... er brach in Schweiß aus. Und der Schüler saß da und musste wieder und wieder mit dem Kopf schütteln: „Nein, so wird das nichts ...“ Und dem Meister unterlief ein Fehler nach dem anderen.
Als sich die Tinte dem Ende zuneigte, sagte der Meister: „Geh nach draußen und bereite mehr Tinte zu.“ Während der Schüler draußen war und die Tinte herstellte, gelang dem Meister sein Meisterstück. Als der Schüler zurückkam, sagte er: „Aber Meister, das ist ja vollkommen! Was ist geschehen?“
Der Meister lachte; er sagte: „Ich weiß auch, woran das liegt – an deiner Anwesenheit. Der bloße Umstand, dass da jemand mein Tun positiv oder negativ beurteilt, den Daumen hebt oder senkt, hat meine innere Ruhe verstört. Von nun an ist aber Schluss damit. Ich habe erkannt, dass ich es unbedingt vollkommen machen wollte – und dass das der einzige Grund war, warum es nicht vollkommen ist.“
Versuche, etwas vollkommen zu machen und es wird unvollkommen bleiben. Geh es natürlich an und es ist immer vollkommen. Die Natur ist vollkommen; Bemühtheit ist unvollkommen. Sobald du also versuchst zu viel des Guten zu machen, zerstörst du es.
Darum passiert immer dasselbe: Alle reden so schön. Die Leute reden ihr ganzes Leben lang ... aber stellt sie an ein Rednerpult und fordert sie auf, eine Rede vor Publikum zu halten, und plötzlich verstummen sie. Plötzlich fällt ihnen nichts mehr ein, plötzlich können sie kein einziges Wort aussprechen. Oder wenn doch, dann klingt es schräg, klingt es unnatürlich, kommt nichts rüber. Was ist da los? Und ihr wisst, wie schön dieser Mensch mit seinen Freunden, mit seiner Frau, mit seinen Kindern redet. Was ist an diesen Leuten denn anders? Es sind doch dieselben Leute – wovor hast du Angst? Du hast Lampenfieber bekommen. Jetzt steht dein Ruf auf dem Spiel: Du möchtest gern einen guten Eindruck machen.
Hört genau zu: Wann immer ihr Eindruck schinden wollt, sucht ihr Futter für euer Ich. Wann immer ihr natürlich seid und alles laufen lasst, ist es vollkommen und gibt es kein Problem. Wenn ihr natürlich seid und alles laufen lasst, stützt Gott euch den Rücken. Vor lauter Angst habt ihr ihn vergessen. Je mehr ihr auf die Leute achtet, desto mehr habt ihr eure Quelle vergessen. Befangenheit macht euch schwach. Ein unbefangener Mensch ist stark, aber seine Stärke hat nichts mit ihm selber zu tun – sie kommt aus dem Jenseitigen.