Warum kann ich meine eigenen Mängel nicht erkennen?
Frage: Warum kann ich meine eigenen Mängel nicht erkennen, wo ich doch ausgesprochen begabt bin, die der anderen bis ins Kleinste zu erkennen?
Osho: Das ist völlig normal. Das ist nichts Außergewöhnliches. Unsere Augen sind auf andere gerichtet; wir schauen auf andere. Wir sehen immer nur die anderen – und zwar nicht nur ihre Mängel –, aber niemals uns selber. Und wenn wir uns doch mal sehen wollen, müssen wir in einen Spiegel sehen. Wir müssen uns ein Bild von uns machen. Sobald es da ist, erscheint auch der andere. Der Spiegel hilft uns, uns selber zu sehen, indem er uns als den anderen vor Augen führt. Ansonsten sind wir absolut extrovertiert, haben wir die Sprache unserer Innenwelt vergessen. Folglich, wie könnte es auch anders sein, kannst du deine eigenen Mängel nicht erkennen; niemand kann das. Sobald du anfängst deine eigenen Mängel zu erkennen, fallen sie nach und nach ab wie trockenes Laub. Mehr braucht nicht zu geschehen, es genügt, sie zu erkennen. Du brauchst dir einfach nur deiner eigenen Mängel bewusst zu werden. In dieser Bewusstheit verschwinden sie, lösen sie sich in Luft auf. Man kann
einen bestimmten Irrtum nur dann immerzu wiederholen, solange man sich seiner nicht bewusst ist. Nur aufgrund von Unbewusstheit kann man immerzu dieselben Irrtümer wiederholen. Selbst wenn du versuchst dich zu bessern, wirst du denselben Irrtum in anderer Form, in anderer Gestalt begehen. Und sie können jede Form und jede Gestalt annehmen. Du tauschst sie nur aus, du wechselst sie aus, aber du wirst ihn einfach nicht los, denn im Grunde erkennst du nicht, dass es ein Irrtum ist. Andere mögen dich auf ihn hinweisen, da sie ihn erkennen.
Darum hält jeder sich für so schön, so intelligent, so tugendhaft, so heilig – und niemand teilt seine Meinung! Die Sache ist ganz einfach: Du siehst andere an, du erkennst ihre Wirklichkeit, aber was dich betrifft, hegst du Illusionen – schöne Illusionen. Was dich betrifft, bist du ausgesprochen erfinderisch. Alles, was du von dir weißt, ist mehr oder weniger frei erfunden; mit der Wirklichkeit hat es nichts zu tun.
Kaum hat man seine Mängel erkannt, setzt eine radikale Veränderung ein. Darum haben alle Buddhas der Welt nur auf einem bestanden: Bewusstheit. Sie lehren euch keinen Charakter. Das ist Sache der Priester, Politiker, nicht aber der Buddhas. Buddhas lehren euch Bewusstsein – kein Gewissen. Gewissen ist nur ein Trick, mit dem dich andere reinlegen. Andere erzählen dir, was richtig ist und was falsch; damit zwingen sie dir ihre Vorstellungen auf. Und zwar von deiner Geburt an, als du so unschuldig warst, so verletzlich, so zart, dass man dich ohne weiteres formen konnte, dir alles Mögliche aufprägen konnte. Sie haben dich von Anfang an geprägt. Diese Prägung wird Gewissen genannt, und dieses Gewissen beherrscht seither dein ganzes Leben. Mit der Strategie des Gewissens versklavt dich deine Gesellschaft.
Buddhas lehren Bewusstsein. Bewusstsein heißt nicht, dass du von anderen lernst, was richtig und was falsch ist; das brauchst du nicht von anderen zu lernen. Du brauchst nur in dich zu gehen: Einfach die Reise nach innen genügt. Je tiefer du gehst, desto mehr Bewusstsein wird freigesetzt. Wenn du dein Innerstes erreichst, bist du so voller Licht, dass es nirgends mehr dunkel ist. Wer sein Zimmer erhellen will, braucht die Dunkelheit nicht zu vertreiben: Die Anwesenheit von Licht genügt, denn Dunkelheit ist nur die Abwesenheit von Licht. Dasselbe gilt für all eure Wahnvorstellungen und Verrücktheiten.
Aber jeder kann nur die Mängel anderer erkennen, also mach dir deswegen keine Gedanken. In dieser Lage befinden sich alle.
Ein als Adolf Hitler verkleideter Mann kommt zum Psychiater. „Wie Sie sehen“, sagt er, „habe ich keine Probleme. Ich habe die größte Armee der Welt, mehr Geld, als ich je brauchen werde und genieße jeden erdenklichen Luxus.“
„Aber was wollen Sie dann hier, was fehlt Ihnen?“, fragt der Arzt.
„Tja, meine Frau sieht das anders“, sagt der Mann. „Sie hält sich für Frau Weber.“
Lacht den Ärmsten nicht aus. Er ist kein anderer als ihr.
Ein Mann betritt das Atelier eines Schneiders und sieht einen Mann an einem Arm von der Zimmerdecke hängen.
„Was macht der da oben?“, fragt er den Schneider.
„Ach, beachten Sie ihn gar nicht“, erwidert dieser. „Er hält sich für eine Glühbirne.“
„Und warum klären Sie ihn dann nicht über seinen Irrtum auf?“, empört sich der Kunde.
„Ich bitte Sie!“, wehrt der Schneider ab. „Soll ich etwa im Dunkeln arbeiten?“
Sobald du erkennst, dass du verrückt bist, bist du nicht mehr verrückt. Das ist der einzige Prüfstein für gesunden Menschenverstand. Sobald du erkennst, dass du unwissend bist, bist du weise geworden.
Das Orakel von Delphi hat Sokrates den weisesten Menschen auf Erden genannt. Sofort eilten einige Leute mit der Nachricht zu ihm: „Freu dich: Das Orakel von Delphi hat dich zum weisesten Mann auf Er- den erklärt!“
Sokrates sagte: „Was soll der Unsinn. Ich weiß nur eins – dass ich nichts weiß.“
Die Leute waren verdutzt und verwirrt. Sie kehrten um und richteten dem Orakel aus: „Sokrates leugnet ab, der weiseste Mensch auf Erden zu sein, wie du sagst. Er behauptet viel- mehr, unwissend zu sein. Er sagt, er wisse nur eins, nämlich dass er nichts wisse.“
Da lachte das Orakel und sagte: „Genau deswegen habe ich ihn zum Weisesten auf Erden erklärt, zum größten Weisen auf Erden. Nur deswegen – eben weil er weiß, dass er unwissend ist!“
Dumme halten sich für Weise. Wahnsinnige halten sich für die geistig Gesündesten. Ja, das ist nun mal so; es gehört zur Natur des Menschen, dass wir immer nur nach draußen sehen. Wir beobachten alle und jeden, außer uns selbst. Daher wissen wir mehr über andere als über uns selber. Über uns selber wissen wir nichts. Wir nehmen nicht einmal unsere eigenen Gedankengänge wahr, wir beachten unser Inneres gar nicht.
Du musst dich um hundertachtzig Grad drehen – nur darum geht es bei Meditation. Du musst anfangen, mit geschlossenen Augen zu beobachten. Anfangs wirst du nur Dunkelheit finden und sonst nichts. Und davor bekommen die meisten Angst und stürzen nach draußen, wieder ans Licht. Ja, draußen herrscht Licht, aber ein Licht, das dich nicht erleuchten wird, ein Licht, das dir kein bisschen helfen wird. Du brauchst inneres Licht –
ein Licht, das in deinem Innersten leuchtet; ein Licht, das nicht einmal vom Tod gelöscht wird; ein Licht, das ewig ist. Und du hast es, das Potenzial ist da! Du wirst mit ihm geboren, aber du drehst ihm den Rücken zu: Du siehst nie hin.
Und da ihr seit Jahrhunderten, seit vielen Leben immer nur nach draußen geschaut habt, ist euch das zur mechanischen Gewohnheit geworden. Selbst wenn ihr schlaft, schaut ihr euch Träume an. Träume sind Spiegelungen der Außenwelt. Wenn ihr die Augen schließt, fangt ihr sofort an zu träumen oder zu denken; das heißt, dass ihr euch für andere interessiert. Das ist zu einer so andauernden Gewohnheit geworden, dass es nicht einmal winzige Lücken gibt, kleine Fenster in euer eigenes Inneres, von wo aus ihr eine Ahnung von eurem wahren Wesen bekommen könnt.
Am Anfang ist das ein harter Kampf, ist das bitterhart, ist das beschwerlich – aber nicht unmöglich. Wenn du entschlossen bist, wenn du dein Inneres wirklich erforschen willst, dann geschieht es irgendwann auch. Du musst einfach nur immer weiter graben, musst ständig mit der Finsternis ringen. Bald liegt die Finsternis hinter dir – dann wirst du das Reich des Lichts betreten. Und dieses Licht ist wahres Licht, weit wahrer als das Licht der Sonne oder des Mondes; denn alle äußeren Lichter sind vergänglich; sie leuchten nur kurzfristig.
Selbst die Sonne wird irgendwann sterben. Nicht nur kleine Lichtlein erschöpfen sich und sterben am Morgen, selbst die Sonne, eine so gewaltige Lichtquelle, stirbt mit jedem Tag. Früher oder später wird sie zu einem schwarzen Loch; wird sie sterben und kein Licht mehr verbreiten. Egal wie lange sie lebt, sie ist nicht ewig. Das innere Licht ist ewig; es hat keinen Anfang, kein Ende. Es ist wie Gott.
Und ich verlange von dir nicht, deine Mängel zu beseitigen, ein guter Mensch zu werden, dich charakterlich zu bessern – nein, keineswegs. Dein Charakter interessiert mich überhaupt nicht; mich interessiert einzig und allein dein Bewusstsein.
Werde wacher, bewusster. Geh einfach nur immer tiefer in dich, bis du auf die Mitte deines Seins stößt. Du lebst an der Oberfläche und an der Oberfläche herrscht immer Chaos. Je tiefer du gehst, desto tiefer die Stille, die herrscht. Und in solchen Erfahrungen der Stille, des Lichts, der Freude, betritt dein Leben zunehmend ein unbekanntes Reich. Dann lösen sich die Irrtümer, die Fehler einfach auf.
Mach dir also keine Gedanken über deine Irrtümer und Fehler und Mängel. Kümmere dich lediglich um eins, ein einziges Phänomen: Setze deine gesamte Energie auf eine Karte, nämlich darauf herauszufinden, wie du bewusster, wie du wacher werden kannst. Wenn du deine gesamte Energie dafür einsetzt, wird es geschehen – unweigerlich geschehen. Das steht dir von Geburt aus zu.
Aus: The Dhammapada: The Way of the Buddha, Vol. 11, #10