Sinn und Sinnlichkeit
Tantra lehrt, dass die Sinne die Tore der Wahrnehmung sind. Man hat sie abgestumpft. Diese Dumpfheit müsst ihr aufgeben, eure Sinne müssen gereinigt werden. Eure Sinne sind wie ein Spiegel, der stumpf geworden ist, weil sich so viel Staub auf ihm angesammelt hat. Der Staub muss weggewischt werden.
Seht euch den tantrischen Ansatz an – in allem. Andere sagen: betäube die Sinne, töte deinen Geschmack ab! Und Tantra sagt: Koste Gott in jedem Geschmack. Andere sagen: Töte deine Fähigkeit ab, Berührung zu genießen. Tantra sagt: Fließe total in deine Berührung ein, denn was immer du berührst, ist göttlich. Es ist die totale Umkehrung der sogenannten Religionen. Es ist eine radikale Revolution – sie setzt bei den Wurzeln an. Berühre, rieche, schmecke, schaue, höre so total wie möglich. Ihr werdet diese Sprache erst lernen müssen, denn die Gesellschaft hat euch hinters Licht geführt: sie hat euch vergessen lassen.
Jedes Kind wird mit wunderbaren Sinnen geboren. Beobachtet einmal ein Kind. Wenn es etwas anschaut, geht es völlig darin auf. Wenn es mit seinen Spielsachen spielt, geht es völlig darin auf. Wenn es schaut, wird es ganz Auge. Seht euch die Augen eines Kindes an. Wenn es hört, wird es ganz Ohr. Wenn es etwas isst, dann ist es mit all seinen Sinnen Zunge. Es wird zu einem einzigen Schmecken. Seht euch ein Kind an, wenn es einen Apfel isst. Mit welchem Genuss! Mit was für einer Energie! Mit welcher Lust! Seht euch ein Kind an, wenn es im Garten hinter einem Schmetterling herrennt… es geht so darin auf, dass selbst Gott es nicht ablenken könnte. So ein totaler, meditativer Zustand – und ohne jede Anstrengung. Seht euch ein Kind an, das Muscheln am Strand sucht, als ob es Diamanten wären. Alles ist kostbar, wenn die Sinne lebendig sind, alles ist klar, wenn die Sinne lebendig sind.
Später im Leben wird dasselbe Kind die Wirklichkeit so wahrnehmen, als wäre sie hinter einer abgedunkelten Scheibe verborgen. Viel Rauch und Staub haben sich auf dem Glas niedergeschlagen, und du hast dich dahinter versteckt. Du guckst, und alles sieht dumpf und tot aus. Du betrachtest einen Baum, und der Baum sieht glanzlos aus, weil deine Augen stumpf sind. Du hörst ein Lied, und es spricht dich nicht an, weil deine Ohren abgestumpft sind. Selbst wenn du ein Lied von Saraha hörst, gefällt es dir nicht, weil deine Intelligenz abgestumpft ist.
Versuche, deine vergessene Sprache zurückzugewinnen. Wann immer du Zeit hast, geh mehr in deine Sinne hinein. Wenn du isst, iss nicht einfach nur, sondern versuche, die vergessene Sprache des Schmeckens wieder zu erlernen. Berühre das Brot, fühle seine Struktur. Fühle es mit offenen Augen, fühle es mit geschlossenen Augen. Wenn du es kaust, kaue wirklich: du kaust Gott. Vergiss das nicht! Es wäre respektlos, nicht richtig zu kauen, nicht richtig zu schmecken. Lass es ein Gebet sein, und ein neues Bewusstsein wird in dir aufsteigen. Du wirst in die Alchimie von Tantra eingeweiht werden.
Berühre die Menschen mehr. Wir sind voller Berührungsängste. Wenn jemand mit dir spricht und dir zu nahekommt, weichst du zurück. Wir schützen unser Territorium. Wir berühren niemanden und erlauben auch anderen nicht, uns zu berühren; wir halten uns nicht an den Händen, wir umarmen uns nicht. Wir freuen uns nicht aneinander.
Geh zu einem Baum und berühre ihn. Berühre den Felsen. Geh zum Fluss und lass den Fluss durch deine Hände rinnen. Fühle ihn! Schwimme und spüre das Wasser so, wie der Fisch es spürt. Lass keine Gelegenheit aus, deine Sinne wiederzubeleben. Und es gibt jeden Tag tausendundeine Gelegenheit. Du brauchst dir nicht extra Zeit dafür zu nehmen. Der ganze Tag ist ein Sensitivitätstraining. Nutze alle Möglichkeiten. Wenn du duschst, nutze die Gelegenheit und spüre, wie sich das Wasser anfühlt, das dir über die Haut rinnt. Lege dich nackt auf den Boden und spüre die Erde. Lege dich an den Strand und fühle den Sand. Lausche dem Klang des Sandes, lausche dem Klang des Meeres. Nutze jede Gelegenheit – nur so kannst du die Sprache der Sinne wieder lernen. Und Tantra kann nur dann verstanden werden, wenn dein Körper lebendig ist und wenn deine Sinne fühlen können. Befreit eure Sinne von Gewohnheiten: Gewohnheiten sind eine der Ursachen für eure Abgestumpftheit. Sucht nach neuen Wegen. Erfindet neue Arten zu lieben. Die Leute haben so viel Angst!
Ich habe einmal gehört …
Ein Arbeiter ist von einem Arzt untersucht worden und geht wieder nach Hause. Der Arzt schickt ihm als Boten einen kleinen Jungen nach, denn er hatte vergessen, eine Urinprobe zu nehmen. Der Junge holte also die Urinprobe in einem Glas, aber unterwegs verschüttete er fast den ganzen Inhalt. Um das Missgeschick zu verbergen, lässt er eine Kuh auf der Weide in das Glas pinkeln.
Der Arzt bestellt den Mann sofort zu sich. Der kehrt wütend zu seiner Frau zurück. „Das hast du nun von deinen ausgefallenen Stellungen! Immer musst du oben sein! Und jetzt bin ich schwanger!“
Die Menschen haben feste Gewohnheiten. Selbst beim Liebemachen sind sie immer in der gleichen Stellung, der „Missionars-Stellung“. Lasst euch mal was anderes einfallen! Jede Erfahrung sollte mit großer Einfühlsamkeit erlebt werden. Wenn du mit einer Frau oder einem Mann Liebe machst, mache ein Fest daraus. Und bring jedes Mal neue Kreativität in den Liebesakt ein, lass dir jedes Mal etwas Neues einfallen. Ihr könnt tanzen, bevor ihr Liebe macht. Ihr könnt beten, bevor ihr ihr Liebe macht. Ihr könnt in den Wald laufen und danach Liebe machen. Ihr könnt schwimmen gehen, und dann macht ihr Liebe. So wird euch jedes Liebeserlebnis sensibler machen, und die Liebe wird nicht fad und langweilig werden.
Findet neue Wege, wie ihr den anderen entdecken könnt. Nichts sollte zur Routine erstarren. Jede Routine ist gegen das Leben: Routine steht im Dienst des Todes. Man kann sich immer etwas Neues einfallen lassen, euren Erfindungen sind keine Grenzen gesetzt. Manchmal kann schon eine kleine Veränderung eine große Abwechslung bedeuten. Ihr esst immer am Tisch – geht doch manchmal einfach hinaus auf den Rasen, setzt euch hin und esst dort. Und ihr werdet ungeheuer überrascht sein: es ist eine völlig andere Erfahrung. Der Geruch des frischgeschnittenen Grases, die Vögel, die herumhüpfen und singen, und die frische Luft, und die Sonnenstrahlen, und das feuchte Gras unter dir. Das ist etwas völlig anderes, als wenn du auf einem Stuhl am Tisch sitzt und isst; es ist eine völlig andere Erfahrung: alles ist anders.
Versuche einmal einfach nackt zu essen und du wirst überrascht sein. Es ist nur eine kleine Veränderung, nicht viel, du sitzt nackt da, aber es wird eine völlig andere Erfahrung für dich sein, weil etwas Neues dazugekommen ist. Normalerweise isst du mit Löffel und Gabel, nun iss zur Abwechslung mal mit den Händen – das wird eine ganz andere Erfahrung für dich sein; wenn du das Essen anfasst, wird es viel besser schmecken. Ein Löffel ist ein lebloses Ding: Wenn du mit einem Löffel oder einer Gabel iss, schaffst du Distanz. Es ist dieselbe Angst, Angst vor Berührung – du kannst nicht einmal das Essen anfassen. Du weißt nichts von seiner Beschaffenheit, wie es sich anfasst, wie es sich anfühlt. Essen schmeckt nicht nur, es fühlt sich auch an.
Manchmal freuen wir uns über etwas und wissen gar nicht, warum. Es mag viele verborgene Gründe dafür geben. Wir kennen sie nicht. Aber im Westen hat man damit experimentiert. Zum Beispiel: Schließe deine Augen und deine Nase und dann iss eine Zwiebel. Jemand soll sie dir geben ohne das du weißt, ob er dir nun eine Zwiebel oder einen Apfel zu essen gibt. Und es wird dir schwerfallen, einen Unterschied festzustellen, wenn die Nase vollkommen verschlossen ist und die Augen mit einer Augenbinde verbunden sind. Es wird dir nicht möglich sein, den Apfel von der Zwiebel zu unterscheiden, denn Geschmack ist nicht allein Geschmack; fünfzig Prozent davon kommt von der Nase. Und sehr viel kommt von den Augen. Es ist nicht allein der Geschmackssinn; alle Sinne sind beteiligt. Wenn du mit den Händen isst, ist dein Berührungssinn beteiligt. Es schmeckt einfach besser. Es ist menschlicher, es ist natürlicher.
Entdeckt neue Wege in allem, was ihr tut. Macht dies zu einer eurer Sadhanas.