Wachsen statt Altern: Die Reise auf der vertikalen Achse
Frage an Osho
Auch ich werde langsam älter. Würdest du mir bitte auch ein paar Gesetze für die mittleren Jahre verraten?
Osho
Amrito, jeder wird älter. Seit dem Tag deiner Geburt bist du älter geworden – jeden Augenblick, jeden Tag. Die Kindheit ist ein Fluss, die Jugend auch; nur das hohe Alter endet nie – weil es Schluss macht! Das ist das Einmalige am Alter, dass es einen zur letzten Ruhe bringt. Aber du wünschst ein paar Gesetze für die mittleren Jahre … Du als Mediziner solltest es besser wissen.
Wenn du mich fragst – Ich bin nie ein Kind gewesen, nie ein Jugendlicher, werde nie alt werden und niemals sterben. Ich kenne in mir nur Eines, das sich absolut nicht verändert und ewig ist. Aber allein dir zuliebe …
Es gibt viele Gesetze für die mittleren Jahre, denn überall auf der Welt werden die Leute älter, und viele Denker haben sich schon darüber den Kopf zerbrochen, was Altern heißt. Das erste Gesetz ist „Das Gesetz, das niemals verloren geht“; offensichtlich das Altern betreffend, kann es auch das letzte Gesetz sein: „Spekuliere nie über Dinge, die absolut feststehen.”
Du weißt ganz genau, dass du älter wirst; fang jetzt also bitte nicht an darüber zu spekulieren, sonst machst du dich nur noch unglücklicher.
Eine schöne Regel, nie über das zu spekulieren, was absolut feststeht. Tatsächlich aber steht im Leben nichts fest außer dem Tod. Über alles kann man spekulieren, nur nicht über den Tod. Und das Alter ist nur das Tor zum Tod.
Du bist in den mittleren Jahren, wenn du deine Gefühle gegen Symptome eintauschst.
Lendels Gesetz: Dass du langsam alt wirst, erkennst du daran, dass ein Mädchen „Nein!“ sagt und wenn alles, was du fühlst, Erleichterung ist.
Du bist alt, wenn du das Licht nicht aus romantischen, sondern aus Spargründen ausmachst.
Du bist alt, wenn deine Vorstellung vom Vorwärtskommen darin besteht, das Gleichgewicht zu halten.
Du bist alt, wenn du genauso viel machst wie sonst, nur ohne Lust.
Das Alter ist eine geheimnisvolle Erfahrung, aber all diese Gesetze stammen von westlichen Köpfen. Ich habe in der gesamten Literatur des Ostens niemanden entdecken können, der ähnlich über das Alter gesprochen hätte. Im Gegenteil, dort preist man das Alter immer in den höchsten Tönen, denn für den Osten kann man einfach gar nicht alt sein. Wessen Leben in der Horizontalen verlaufen ist, ist nur betagt. Wessen Leben, wessen Bewusstsein sich jedoch vertikal, nach oben entwickelt hat, der ist zur Schönheit, zur Herrlichkeit des Alters gelangt. Im Osten ist Alter seit jeher gleichbedeutend mit Weisheit.
Dies sind die zwei möglichen Wege: Der eine verläuft horizontal, bleibt immer auf derselben Ebene – von der Kindheit zur Jugend, zum Alter und dann zum Tod; der andere verläuft vertikal, führt in die Höhe – von der Kindheit zur Jugend, zum Alter und dann zur Unsterblichkeit. Der Unterschied zwischen diesen beiden Richtungen ist enorm, unendlich. Wer einfach immer nur älter wird, von der Kindheit bis zu Alter und Tod, der ist mit seinem Körper identifiziert geblieben. Er hat nie etwas von seinem Wesen erfahren; denn das Wesen wird nie geboren und stirbt nie; es ist immer da, es ist immer da gewesen, es wird immer da sein – es ist die gesamte Ewigkeit.
Auf der Vertikalen wird aus dem Kind ein junger Mensch, aber eine Jugend auf der Vertikalen wird sich von einer Jugend auf der Horizontalen unterscheiden. Beider Kindheit ist unschuldig, aber an diesem Punkt öffnen sich die zwei verschiedenen Richtungen. Die Jugend auf der Horizontalen besteht nur aus Sinnlichkeit, Sexualität und allen möglichen anderen Dummheiten. Die Jugend auf der Vertikalen ist eine Suche nach Wahrheit, ist eine Suche nach Leben – sie ist eine Sehnsucht nach Selbsterkenntnis.
Einen Menschen auf der Vertikalen kann man nicht jung nennen, wenn er nicht meditativ ist, dasselbe gilt von seinem hohen Alter. Auf der Horizontalen ist das hohe Alter nur von Zittern, von Todesangst bestimmt; es kann immer nur an den Friedhof denken und ans Dunkel, das immer dunkler wird. Es sieht sich selber nur noch als Skelett.
Auf der Vertikalen ist hohes Alter ein Freudenfest; es wird so schön wie nie zuvor. Die Jugend ist etwas kindisch – kann gar nichts anderes sein: sie ist unerfahren. Aber das hohe Alter hat alle Erfahrungen hinter sich gebracht – gute und schlechte, richtige und falsche – und hat einen Zustand erlangt, wo nichts, was mit Körper oder Geist zu tun hat, es noch berühren kann.
Es ist ein Willkommen! Das hohe Alter auf der Vertikalen hält seine Tür sperrangelweit offen, damit der höchste Gast eintreten kann. Es ist kein Ende, sondern der Beginn eines wirklichen Lebens, eines authentischen Seins.
Daher unterscheide ich grundsätzlich zwischen Altwerden und Erwachsenwerden. Nur die Wenigsten hatten bislang das Glück erwachsen zu werden; die restliche Menschheit ist immer nur alt geworden. Und natürlich gehen alle miteinander auf den Tod zu. Nur existiert der Tod auf der Vertikalen überhaupt nicht; dort führt der Weg zur Unsterblichkeit, zur Göttlichkeit. Und natürlich hat jeder, der auf dieser Achse alt wird, eine gewisse Anmut und Schönheit und Liebe und Mitgefühl.
Das ist wieder und wieder festgestellt worden … In den buddhistischen Schriften steht irgendwo: „Je älter Buddha wurde, desto schöner wurde er.“ Dies nenne ich ein wahres Wunder. Nicht, auf dem Wasser zu laufen – das kann jeder Säufer ausprobieren. Nicht, Wasser in Wein zu verwandeln – das kann jeder Betrüger. Dies aber ist ein wahres Wunder: Dass Buddha noch schöner wurde, als er schon in seiner Jugend war; dass er unschuldiger wurde, als er selbst in seiner Kindheit war – dies ist Wachstum.
Wer sich nicht auf die Vertikale begibt, der lässt sich die ganze Chance des Lebens entgehen. Aber hier bei mir gehen alle Anstrengungen dahin, die Horizontale zu blockieren und die blockierte Vertikale wieder zu öffnen. Damit kommt ihr mit jedem Tag dem Leben näher, statt euch zu entfernen. Dann ist eure Geburt nicht der Anfang des Todes, sondern ist eure Geburt der Anfang des ewigen Lebens. Nur zwei verschiedene Achsen – aber was für ein Unterschied!
Der Westen hat nie darüber nachgedacht; man hat die vertikale Achse nicht einmal erwähnt, da man dort nicht in einer spirituellen Atmosphäre aufgewachsen ist, wo die wahren Schätze in einem selber liegen. Selbst die Gottesvorstellung hat man dort irgendwo da draußen angesiedelt. Gautam Buddha konnte Gott leugnen – auch ich leugne Gott. Für uns existiert absolut kein Gott, aus dem einfachen Grund, weil wir wollen, dass ihr euch nach innen kehrt. Wenn Gott – oder dergleichen – existiert, müsst ihr ihn in euch selber suchen, müsst ihr ihn in eurer eigenen Ewigkeit, in eurer eigenen Ekstase suchen.
Sich selber als ein Körper-Geist-Wesen vorzustellen ist die gefährlichste Vorstellung, die Menschen überhaupt haben konnten. Sie macht ihre ganze Anmut und Schönheit kaputt, und so zittern sie ununterbrochen vor Todesangst und versuchen sich das Alter so lange wie möglich vom Halse zu halten. Wenn man im Westen einer alten Frau sagt: „Du siehst aber jung aus!“, und sie weiß, dass sie nicht mehr die Jüngste ist, wird sie stundenlang vor dem Spiegel stehen um zu prüfen, ob irgendwo noch etwas Jugendlichkeit geblieben ist. Aber sie wird es nicht bestreiten, sie wird heilfroh sein. Im Osten denkt kein Mensch daran, zu einer alten Frau zu sagen: „Du siehst aber jung aus!“; im Gegenteil: Dort wird das Alter dermaßen geachtet und geliebt, dass es eine Art Beleidigung wäre, zu jemandem zu sagen: „Du siehst jünger aus, als du bist.“
Das erinnert mich an eine Anekdote aus meinem Leben …
Ich war einmal in Chanda – einem abgelegenen Winkel von Maharashtra – bei einer sehr reichen Familie zu Gast und sie interessierten sich alle mächtig für einen Astrologen. Sie liebten mich und ich verbrachte jedes Mal mindestens drei oder vier Tage bei ihnen. Einmal, als ich zu Besuch kam, hatten sie auch ohne mich zu fragen den Astrologen dazu gebeten; er sollte sich meine Hände ansehen und alles Mögliche daraus lesen. Als ich davon erfuhr, war alles schon vorbereitet und der Astrologe saß im Wohnzimmer. Also sagte ich: „Na gut, genießen wir also auch dies!“
Ich zeigte ihm meine Hand; er brütete über ihr und sagte schließlich: „Sie müssen mindestens achtzig Jahre alt sein.“
Da flippte eine der Töchter des reichen Mannes natürlich aus: „Wie idiotisch! Was soll das für eine Astrologie sein?!“
Damals war ich nicht älter als fünfunddreißig. Selbst ein Blinder hätte den Unterschied zwischen fünfunddreißig und achtzig erkennen können! Sie war richtig aufgebracht und fuhr fort: „Ich bin mit diesem Astrologen fertig. Was soll der schon noch wissen?“
Ich sagte: „Du verstehst nicht. Du bist eher westlich, nach westlicher Art erzogen worden. Du hast deine Ausbildung im Westen bekommen, du kannst nicht verstehen, wie er das gemeint hat.“
Sie darauf: „Was soll er schon gemeint haben! Es war so eindeutig, dass es da nichts zu verstehen gibt. Er bewies einfach nur, wie dumm er ist. Einen jungen Mann von fünfunddreißig Jahren hat er auf achtzig Jahre geschätzt!“
Ich sagte: „Nur Geduld.“
Und ich erzählte ihr eine Geschichte über Emerson…
Ein Mann fragte Emerson einmal: „Wie alt sind Sie?“
Emerson antwortete: „An die dreihundertsechzig Jahre alt.“
Der Mann konnte es nicht glauben – und er hatte Emerson immer für einen so wahrhaftigen Mann gehalten! Was war los? Hatte er sich etwa versprochen? Oder wurde er langsam senil? Oder scherzte er nur? Und die Lage zu klären, sagte er: „Ich hab nicht gehört, was Sie sagten. Sagen Sie mir bitte nur, wie alt?”
Emerson sagte: „Sie haben schon richtig verstanden – dreihundert und sechzig Jahre.“
Der Mann sagte: „Das kann ich nicht glauben. Sie kommen mir eher wie sechzig vor.“
Emerson erwiderte: „In gewisser Weise haben Sie Recht: Auf der vertikalen Achse bin ich dreihundertsechzig Jahre alt und auf der horizontalen bin ich sechzig.“
Vielleicht war er der erste im Westen, der sich dieser östlichen Symbolik der Horizontalen und der Vertikalen bedient hat.
Emerson war ungeheuer am Osten interessiert und einige seiner Erkenntnisse rücken ihn in die Nähe der Upanischaden. Er sagte: „Tatsächlich habe ich erst sechzig Jahre gelebt, insofern haben Sie Recht. Aber in sechzig Jahren habe ich so viel gelebt, wie man es normalerweise nicht einmal in dreihundertundsechzig Jahren hätte schaffen können. Ich habe sechsmal so viel gelebt.”
Auf der Vertikalen zählen nicht die Jahre, sondern die Erfahrungen. Und auf der Vertikalen ist der gesamte Schatz der Existenz zu finden – nicht nur die Unsterblichkeit, nicht nur das Gefühl der Göttlichkeit, sondern auch die erste Erfahrung von Liebe ohne Hass, die erste Erfahrung von Mitgefühl, die erste Meditationserfahrung, die erste Erfahrung der ungeheuren Explosion der Erleuchtung.
Es ist nicht von ungefähr, dass dem Westen das Wort „Erleuchtung“ nicht das gleiche bedeutet wie dem Osten. Im Englischen nennt man das Zeitalter der Aufklärung nach dem unaufgeklärten Mittelalter und seinen dunklen Zeiten „the age of enlightenment“, „das Zeitalter der Erleuchtung“. Entsprechend nennt man Leute wie Bertrand Russell, Jean-Paul Sartre und Jaspers sehr aufgeklärte (enlightened) Genies. Man hat keine Ahnung, wie sehr man damit ein Wort missbraucht, es in den Schmutz zieht! Weder ist Bertrand Russell erleuchtet, noch Jean-Paul Sartre oder Jaspers.
Erleuchtung kommt auf der Horizontalen nicht vor. Selbst im hohen Alter rannte Jean-Paul Sartre noch hinter jungen Mädchen her. Bertrand Russell wechselte seine Ehefrauen unzählige Male und er lebte lange auf der Horizontalen – fast ein Jahrhundert. Aber selbst im hohen Alter waren seine Interessen so töricht wie die junger Leute.
Dem Osten ist klar, dass das Wort „Erleuchtung“ nichts mit Genie zu tun hat, nichts mit Intelligenz zu tun hat, sondern etwas damit zu tun hat, sein eigenes wirkliches, authentisches Wesen zu entdecken. Es steht für die Entdeckung Gottes im eigenen Innern.
Amrito, du brauchst dir nicht den Kopf über Gesetze und Regeln zu zerbrechen. Diese Regeln gelten alle nur auf der Horizontalen. Auf der Vertikalen gilt Liebe, kein Gesetz, gilt die zunehmende Erfahrung des Spirituellen und die abnehmende des Körperlichen, das Zunehmen des Meditativen und das Abnehmen des Denkens, das Zunehmen der göttlichen Welt und das Abnehmen dieser trivialen, materiellen Welt, in die wir so sehr verstrickt sind.
Auf der Vertikalen fühlst du deine Begierden langsam schwinden, die Sinnlichkeit schwinden, die Sexualität schwinden, den Willen zur Macht schwinden – deine Versklavungen in all ihren Aspekten verschwinden, ob religiös, politisch oder national. Du wirst immer mehr zu einem Individuum. Und je klarer und leuchtender sich deine Individualität herauskristallisiert, desto mehr wird die ganze Menschheit in deinen Augen eins – du kannst keine Unterschiede mehr erkennen.
Auf der Vertikalen gibt es großartige Erfahrungen; auf der Horizontalen gibt es nur Verfall. Auf der Horizontalen lebt der alte Mensch in der Vergangenheit. Er denkt an jene schöne Zeit zurück, jene arabischen Nächte, als er noch jung war; er denkt auch an jene schöne Zeit ohne alle Verantwortung zurück, da er als Kind hinter Schmetterlingen herjagte. Dabei ist er sein ganzes Leben lang nur Schmetterlingen nachgejagt – selbst noch im hohen Alter.
Mulla Nasruddin geht eine Straße entlang…
Als ihm eine schöne junge Frau entgegenkommt, kneift er sie ein wenig in die Seite. Die Frau ist schockiert, schließlich ist Mulla alt, alle Haare sind silberweiß! Die Frau ruft: „Sie sollten sich schämen – Sie weißhaariger Alter! Sie könnten mein Großvater sein – Sie sollten längst tot sein. Sie benehmen sich grottenschlecht!
Mulla antwortet: „Hören Sie, mein Haar mag zwar weiß sein, aber mein Herz ist immer noch schwarz – pechschwarz!“
Genau so spielt es sich auf der Horizontalen ab – dein Haar wird weiß, aber du wirst nicht weiß. Vielmehr verdrehen dir umgekehrt deine Begierden, je älter du wirst, desto mehr den Kopf, denn du weißt, dass du jetzt nur noch den Tod zu erwarten hast. Also vergnüg dich, so sehr du nur kannst, auch wenn dir das zunehmend schwerer fällt, da du körperlich nicht mehr so fit bist. Daher rutscht der Sex des alten Mannes auf der Horizontalen ins Hirn: Er denkt nur noch an Sex.
Die Psychologen haben Tausende beobachtet und sind zu dem Schluss gekommen, dass jeder Mann alle drei Minuten an eine Frau denkt. Überprüft es nur mal! Das wird euch zeigen, auf welcher Achse ihr seid – der horizontalen oder der vertikalen. Und jede Frau denkt alle sieben Minuten einmal an einen Mann. Das ist der Unterschied, der zu so viel Unstimmigkeit führt. Sobald der Mann ankommt und sagt: „Schatz, wie wär’s?“, und sie sagt: „Ich hab Kopfweh, bitte hör auf mich zu quälen…“, ist der Unterschied der, dass sie nur einmal alle sieben Minuten daran denkt, mit anderen Worten: nur an einem Tag von den sieben Tagen der Woche!
Der Mann denkt einmal alle drei Minuten an die Frau, das ist der Durchschnitt. Im Alter schrumpfen die drei Minuten auf eine Minute zusammen. Der alte Mann hat nichts anderes zu tun als zu denken… und was gibt es sonst viel zu denken? Er träumt von schönen Frauen.
Eines Tages sitzt Mulla Nasruddin auf seinem Balkon und sieht dem herrlichen Sonnenuntergang zu... Da plötzlich ruft er seinem Diener zu: „Bring mir meine Brille, die Brille, aber schnell!“
Der Diener erschrocken: „Was ist denn los? Ist ein Unglück passiert?“, und bringt die Brille.
Mulla fährt ihn an: „Du Idiot. Wenn ich schnell sage, meine ich schnell. Jetzt ist unsere Chance futsch.“
Der Diener fragt: „Was denn für eine Chance?“
Mulla sagt: „Grad kam eine schöne Frau vorbei, aber ohne Brille konnt ich nicht sehen, ob sie Männlein oder Weiblein ist und ob sie wirklich so schön ist oder ich mir das nur einbilde. Ich brauchte dringend meine Brille, aber als du endlich damit ankamst, war sie schon weg.“
Der Diener: „Sie unterliegen einem Irrtum. Sie war gar keine Frau! Er ist mein Bruder, der mich besuchen kommt. Sonst ist niemand vorbeigekommen.“
Der alte Mann muss ständig an früher denken – das ist rein psychisch. Das Kind denkt an die Zukunft, da es noch keine Vergangenheit hat, also kann es auch nicht an früher denken – ohne Gestern. Es denkt an die kommenden Zeiten, hat ein ganzes, langes Leben vor sich: Siebzig Jahre lassen ihm viel Zeit. Es möchte schnell genug groß werden, um auch alles zu machen, was die Großen machen.
Der alte Mann hat keine Zukunft – die Zukunft bedeutet Tod; er möchte nicht mal von der Zukunft reden. Die Zukunft lässt ihn zittern. Die Zukunft bedeutet das Grab – er redet nur von der Vergangenheit.
Und dasselbe gilt für Länder. Ein Land wie Indien zum Beispiel denkt nie an die Zukunft. Das hieße ja, dass es alt geworden ist; das ist symptomatisch. Es denkt immer nur an die Vergangenheit. Es führt ständig das ramayana auf, das uralte Spiel von Rama und Sita: seit grauer Vorzeit dasselbe Stück – jedes Dorf führt es auf. Das Land denkt immerzu an Buddha und Mahavira und Adinatha und die Rigveda und die Upanishaden.
All das war früher. Jetzt wartet das Land nur noch darauf zu sterben; es hat keine Zukunft. Der indischen Vorstellung nach – und sie entspringt der Alten-Mentalität, dem Denken eines alten Mannes – liegt das beste Zeitalter Jahrmillionen zurück; es hieß satyuga, das Alter der Wahrheit. Von da an ging’s mit der Menschheit bergab.
Man kann die psychologische Parallele erkennen. Es gibt vier Lebensalter: Kindheit, Jugend, das Erwachsenenalter, das hohe Alter. Diese vier Lebensalter hat man auf das Leben selber projiziert. Das erste Zeitalter war unschuldig, genau wie ein Kind – sehr ausgeglichen. Man vergleicht es mit einem Tisch mit vier Beinen, der steht und nicht wackelt. Und dann setzt der Verfall ein.
In Indien hat man die Vorstellung von einer Evolution nie gekannt, vielmehr herrschte hier genau die entgegengesetzte Vorstellung. In Indien benutzt man ein Wort, das der Westen nie benutzt, vielleicht habt ihr es sogar noch nie gehört. Aber in Indien spricht man seit Menschengedenken von Involution, statt Evolution: „Wir gehen ein, wir fallen.“
In der zweiten Phase des Verfalls geht ein Bein verloren: aus dem Tisch wird ein Dreifuß. Er steht zwar noch, aber nicht so fest wie mit vier Beinen. In der dritten Phase verliert es wieder ein Bein; jetzt steht er nur noch auf zwei Beinen – völlig haltlos. Und inzwischen leben wir in der vierten Phase: selbst zwei Beine sind nicht mehr da: ihr steht jetzt auf einem Bein … wie lange kann man so stehen?
Die erste Phase heißt satyuga, das Alter der Wahrheit; die zweite, einfach nur nach der Anzahl benannt, heißt treta, weil nur noch drei Beine da sind. Die dritte heißt einfach nur dwapar. Die Sanskritsilbe dwa in dwapar entspricht übrigens genau dem deutschen zwei und dem englischen two. Sie ist durch viele Sprachen gewandert, bis twa und schließlich zwei und two daraus wurde. Und das vierte Alter nannten sie kaliyuga, das Zeitalter der Dunkelheit.
Wir heute leben im Zeitalter der Dunkelheit – in der geistigen Verfassung des alten Mannes: Vor uns liegt nur Dunkel und sonst nichts. Das Kind denkt an die Zukunft, die goldene Zukunft. Der alte Mann denkt an die goldene Vergangenheit. Das ist aber nur auf der horizontalen Achse so. Auf der vertikalen Achse ist die Vergangenheit golden, die Gegenwart golden, die Zukunft golden … ist das Leben ein einziges Freudenfest.
Statt dir also den Kopf über die Gesetze des Alters zu zerbrechen, denk lieber nach, auf welchem Gleis dein Zug fährt. Es ist immer noch genug Zeit zum Umsteigen – und zwar deshalb noch genug Zeit, weil sich der Weg jederzeit gabelt: Man kann die Weichen umstellen und aus der Horizontalen in die Vertikale wechseln; nur das zählt.
The Invitation